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Was geschah in Tigerfeld? /

große Menschengruppe auf dem Friedhof

Rund 200 Gäste waren zur Gedenkfeier in der Rentalhalle mit anschließender Kranzniederlegung auf dem ehemaligen Anstaltsfriedhof gekommen.

Es geschah nicht irgendwo, sondern überall. Auch in Zwiefalten und auf der Alb. Bei der Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus berichteten Schüler und Schülerinnen von einer bedrückenden Spurensuche vor der Haustür.

Sie führte ins nur wenige Kilometer entfernte Dorf Tigerfeld, wo die Nationalsozialisten im ehemaligen „Schlössle“ ein jüdisches Zwangsaltenheim eingerichtet hatten. 30 Frauen und 17 Männer wurden dort im Jahr 1942 festgehalten und danach weiter in Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert. Nur zwei dieser 47 Menschen überlebten den Holocaust. Welche Lebensgeschichten sie mit nach Tigerfeld gebracht und welche Spuren sie hinterlassen haben, hatten Schüler:innen der Zwiefalter Münsterschule in einem aufwendigen Projekt gemeinsam mit ihrer Lehrerin Line Brändle und Dr. Bernd Reichelt vom Forschungsbereich Geschichte und Ethik in der Medizin im ZfP Südwürttemberg aufgearbeitet. Ihre Ergebnisse präsentierte die Klasse in der Rentalhalle vor rund 200 Mitschüler:innen, Mitarbeitenden und Patient:innen des Zentrums für Psychiatrie, Vertreter:innen der Gemeinde und Bürger:innen Zwiefaltens. Sopranistin Karina Aßfalg, die die Gedenkfeier musikalisch gestaltete, berührte die Gäste mit der Pop-Ballade „The Rose“ und einer „Ave Maria“-Vertonung des polnischen Komponisten Michal Lorenc.

Reichelt moderierte die Veranstaltung, der Prof. Dr. Gerhard Längle, Regionaldirektor Alb-Necker und stellvertretender Geschäftsführer im ZfP Südwürttemberg, ein sehr nachdenkliches Grußwort vorangestellt hatte. „Welches Menschenbild haben wir?“, fragte Längle. Ist der Mensch grundsätzlich gut oder böse? Ist er frei, sich für die eine oder andere Seite zu entscheiden? Oder wird er von seinen Emotionen, seinen Erfahrungen und Prägungen bestimmt? Die Geschehnisse der vergangenen Monate, bekannte Längle, „haben mich in meiner Überzeugung erschüttert. Denn Menschen, die einem eigentlich sympathisch sind, haben – schleichend oder ganz plötzlich – einen Tunnelblick, ein so einseitiges Weltbild entwickelt, dass sie nicht mehr erreichbar sind“. Auf rationaler Ebene sei das nicht nachzuvollziehen, so Längle, der Parallelen zu den Mechanismen der nationalsozialistischen Ideologie und Propaganda zog: Auch damals haben Menschen Verschwörungstheorien Glauben geschenkt und sind ihnen gefolgt. „Wie ist der Mensch und wie kann er so werden?“ Diese Frage lässt Menschen heute genauso ratlos zurück wie vor 80 Jahren.

Mögliche Antworten darauf haben Schüler:innen der Münsterschule gesucht. Über ein halbes Jahr hinweg haben sie sich jede Woche eine Schulstunde lang mit dem auseinandergesetzt, was scheinbar so weit abseits der großen Weltgeschichte geschah, dass es bisher in kaum einem Geschichtsbuch steht. Und doch war es Teil des grauenvollen großen Ganzen, ein Zahnrad in der Vernichtungsmaschine der Nationalsozialisten. Fotos, Patientenakten und Briefe: Die Spurensuche begann mit Dokumenten, die Historiker Bernd Reichelt den jungen Menschen an die Hand gegeben hatte. Was geschah im ehemaligen „Schlössle“ am Dorfrand von Tigerfeld? Wer waren die 47 Menschen, die hier in einer Zwangsgemeinschaft in drangvoller Enge miteinander leben mussten, bevor sie weiter nach Theresienstadt und danach zum großen Teil weiter in die Vernichtungslager Auschwitz und Treblinka deportiert wurden? 

Ein Denkmal für die Opfer

Die Schüler:innen hatten einige Schicksale herausgegriffen. Wie das von Paula Straus. Die Jüdin aus Stuttgart hatte einst zu den ersten jungen Frauen gehört, die das Gold- und Silberschmiedehandwerk erlernen durften. Ihren Beruf musste sie, als 1935 die „Nürnberger Rassegesetze“ in Kraft traten, aufgeben. Ihre Bemühungen, eine Anstellung im Ausland zu finden und auszuwandern, waren vergeblich. Sie wurde zur Arbeit in verschiedenen jüdischen Zwangsaltenheimen gezwungen und in Auschwitz ermordet. „Für Paula endete das Leben kurz vor ihrem 49. Geburtstag“, berichtete eine Schülerin in ihrem Text. Intensiv auseinandergesetzt hatten sich die jungen Menschen auch mit den zehn Briefen, die Oskar Uhlman von Tigerfeld aus an seinen Sohn geschrieben hatte: „Dein Vater heißt jetzt nicht mehr Oskar Uhlman, sondern Oskar Nullman“, lautet eine der bitteren Zeilen.

Gedanken gemacht hatten sich die Jugendlichen auch darüber, wie man die Erinnerung an ihn und all die anderen Bewohner wachhalten kann. Dazu hatten sie auch Menschen befragt, die heute in Tigerfeld leben. Viele von ihnen, so das Ergebnis, befürworten eine Infotafel oder sogar ein richtiges Denkmal. Wie dieses aussehen könnte, zeigten die Schüler:innen anhand eines Modells aus Papier: 47 Dreiecke– für jeden Menschen eines und mit seinem Namen beschriftet - werden aus Holz oder Metall gefertigt und übereinander gelegt, sodass ein Turm mit der Grundfläche in Form eines Davidsterns entsteht.

Kranzniederlegung auf dem Friedhof

 Im Anschluss legten Violetta Maier und Jasmin Onaca, Schülerinnen der Berufsfachschule für Pflege am ZfP-Standort Zwiefalten, einen Kranz am Gedenkstein für die Opfer des Nationalsozialismus auf dem ehemaligen Anstaltsfriedhof nieder. Alexandra Hepp, Bürgermeisterin der Gemeinde Zwiefalten, mahnte, Freiheitsrechte nicht einfach so als Selbstverständlichkeit hinzunehmen. In anderen Ländern werden immer noch Menschen für ihre Meinung, ihren Glauben oder ihre sexuelle Orientierung verfolgt und ermordet. „Wir dürfen stolz sein auf das, was das demokratische System ermöglicht: Jeder darf sich frei entfalten und aus der Vielfalt der Möglichkeiten schöpfen“, betonte Hepp, die dazu aufrief, rechtsextremen Tendenzen in der Politik Wachsamkeit und Courage entgegenzusetzen. Eine indirekte Antwort auf Gerhard Längles Ausgangsfrage zum Wesen des Menschen gab Pastoralreferentin Hildegard Jakob, die für die katholische Kirchengemeinde sprach. Sie zitierte den Neurologen Viktor Frankl, der den Nationalsozialismus miterlebt hatte und schrieb: „Was also ist der Mensch? Er ist das Wesen, das immer entscheidet, was es ist. Er ist das Wesen, das die Gaskammern erfunden hat; aber zugleich ist er auch das Wesen, das in die Gaskammern gegangen ist aufrecht und ein Gebet auf den Lippen.“

i: Warum sie sich – auch in Zeiten der Pandemie und unter strikter Einhaltung der gesetzlichen Regularien – für eine Gedenkveranstaltung in größerem, halb-öffentlichem Rahmen entschieden haben, erläuterten die Regionaldirektoren Prof. Dr. Gerhard Längle und Dieter Haug in einem Pressegespräch. Ausschlaggebend war neben der räumlichen Nähe zur Tötungsanstalt Grafeneck und den unmittelbaren lokalhistorischen Zusammenhängen auch die traditionelle Einbeziehung der Münsterschule. „Die Jugendlichen haben sich so lange darauf vorbereitet. Es ist wichtig, dass ihr Projekt zu einem Abschluss kommt“, so Längle.




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