Anlässlich des 20-jährigen Bestehens der Gemeindepsychiatrischen Verbünde (GPV) Landkreis Ravensburg und Bodenseekreis tauschten sich rund 150 Teilnehmende im Weissenauer Festsaal über Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Versorgungsstrukturen aus.
Vor 20 Jahren wurden die Gemeindepsychiatrischen Verbünde (GPV) im Landkreis Ravensburg und im Bodenseekreis ins Leben gerufen. Die Verbünde haben das Ziel, Menschen mit psychischen Erkrankungen, die einen komplexen Unterstützungsbedarf haben, eine bedarfsgerechte und wohnortnahe Versorgung anzubieten. Aufgrund der sich verändernden Anforderungen durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG) befinden sie sich in Umwälzungsprozessen. Vor diesem Hintergrund gaben die Referentinnen und Referenten bei einem Fachtag nicht nur Einblicke in die Historie, sondern setzten sich auch kritisch mit der Rolle dieser Verbünde auseinander und fragten, was für das Gelingen einer guten Zusammenarbeit im GPV heute wichtig ist.
„Die Gründung der Gemeindepsychiatrischen Verbünde zum 1. November 2004 hier in den beiden Landkreisen bedeutete Aufbruchsstimmung, ein abgestimmtes Miteinander, ein Ringen um ein bestmögliches Versorgungsangebot im Einzelfall“, sagte Sabine Gnannt-Kroner, Sprecherratsvorsitzende im Bodenseekreis. Das Psychisch-Kranken-Hilfe- Gesetz (PsychKHG) des Landes Baden-Württemberg fordere eine möglichst bedarfsgerechte und wohnortnahe Versorgung.
Gesunde Herzensbildung gefragt
Andreas Ullrich, Stv. Sprecher der Trägergemeinschaft im Landkreis Ravensburg, sagte: „Gemeinsames Ziel eines GPV muss es sein, Stigmatisierung zu überwinden und dass alle, die ihrer benötigen, die Hilfsangebote in Anspruch nehmen können.“ Dies müsse wohnortnah und individuell sowie unter Berücksichtigung des Wunsch- und Wahlrechts der Betroffenen geschehen. Das Angebot müsse dabei von den am schwersten betroffenen Menschen her gedacht werden. „In einer Zeit starker psychischer Deformationen scheint die psychische Gesundheit immer stärker aus dem öffentlichen Bewusstsein zu geraten.“ Die Herausforderungen der Zukunft seien vielfältig, veränderte Bedarfe müssten durch angepasste Angebote aufgegriffen werden. „Für einen ‚GPV 2.0‘ scheint mir vor allem eine spezifische Haltung gefragt zu sein, die ich als gesunde Herzensbildung bezeichnen möchte.“
Manne Lucha, Minister für Soziales, Gesundheit und Integration und ehemaliger Vorsitzender des GPV Bodenseekreis, gratulierte per Videobotschaft zum Jubiläum: „Herzlichen Dank für Euer Engagement, Eure Inspiration, Eure Pionierarbeit. Die gemeindenahe Versorgung hilfebedürftiger Menschen ist in Zeiten, in denen es immer noch Versorgungslücken und Menschen gibt, die aufgrund ihrer Krankheit verwahrlosen, immer noch ein großer politischer Auftrag. Künftig werden wir dafür noch stärker präventiv arbeiten müssen.“
In Bemühungen nicht nachlassen
Sozialdezernent Ignaz Wetzel fragte anschließend: „Wem gratulieren wir heute eigentlich: den Leistungserbringern, den Betroffenen, den Angehörigen?“ Und antwortete darauf wie folgt: „Ich würde sagen, wir können uns, den Trägern, gratulieren und uns bei Ihnen bedanken für die gute und enge Zusammenarbeit. Bitte lassen Sie angesichts knapper Ressourcen und klammer Kassen bei gleichzeitig steigenden Bedarfen in Ihren Bemühungen nicht nach!“
Der ehemalige Sozialplaner Rainer Barth berichtete von den Anfängen des GPV Bodenseekreis und resümierte: „Es zeichnet den Verbund aus, dass alle Akteure auf Augenhöhe agieren, und unsere Erfahrungen führten dazu, dass viele weitere Netzwerke entstehen konnten. Unser Prinzip, die Dinge gemeinsam anzugehen, hat sich bewährt.“
Mehr bezahlbarer Wohnraum notwendig
Für Dr. Michael Konrad, ehemaliger Sprecher des GPV Ravensburg, hatten die Anfangstage des Verbunds zunächst wenig Zauberhaftes: „Der Beginn war mit vielen Ungewissheiten verbunden.“ Die im Zuge der Umsetzung des BTHG abgeschafften Hilfeplankonferenzen seien als Instrument zur gemeinsamen Vertrauensbildung gut etabliert gewesen. Die Gemeindepsychiatrischen Zentren (GPZ) seien eine gute Basis für eine Leistungserbringung aus einer Hand. „Für Assistenzleistungen im häuslichen Umfeld braucht es aber mehr bezahlbaren Wohnraum.“
Jonas Kabsch, Geschäftsfeldleiter Teilhabe zum Leben bei der BruderhausDiakonie, lenkte den Blick nach vorne: „Unsere Generation ist um smartes, agiles Management bemüht und kümmert sich weniger um die Politik.“ Die Konkurrenz werde im BTHG durch Kontrollmechanismen und marktwirtschaftliche Aspekte gestärkt und Kollaborationen würden obsolet, führte er aus. „Und dennoch bedarf es auch heute noch der GPV-Netzwerkarbeit, weil wir Qualitätskriterien entwickelt haben, die beispielhaft für andere Hilfsfelder sind.“ Das Versprechen, Hilfe (wie) aus einer Hand anzubieten, sei indes noch nicht ganz eingelöst. Für eine auch künftig erfolgreiche Arbeit komme es auf drei Dinge an: „Beziehung, Beziehung, Beziehung!“
Teilweise „Verschlimmbesserung“ durch BTHG
„Gemeindepsychiatrie ist ein schwer fassbarer Begriff“, sagte Dr. Raoul Borbé, Leiter des Referats Gemeindepsychiatrie der DGPPN und Regionaler Geschäftsbereichsleiter Gemeindepsychiatrie im ZfP Südwürttemberg. Er stellte die Frage: „Müssen wir mehr Verantwortung für unsere Patienten auch außerhalb der Klinik übernehmen? Schließlich sind wir alle auch Teil einer Gemeinde. Wo findet denn noch ‚echte‘ Begegnung statt?“ Als besonders einschneidend an der BTHG-Umsetzung erachtet auch er den Wegfall der Hilfeplankonferenzen – für ihn eine „Verschlimmbesserung“. Ebenfalls sei in diesem Kontext noch zu klären, wer im Sinne eines funktionalen Denkens die Steuerungsfunktion übernehme. „Die Sozialpsychiatrischen Dienste sind für mich auch künftig von zentraler Bedeutung“, so Borbé. Aufsuchende Angebote müssten weiter etabliert und ausgebaut werden. „Wir brauchen nicht noch mehr Modellprojekte, die Evidenz für Home Treatment haben wir schon lange. Wir müssen weiter politisch streiten und uns eng abstimmen, um mehr Hilfebedürftige zu erreichen, und dabei unsere knappen Ressourcen zu schonen.“
Dieter Schax, Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft Gemeindepsychiatrischer Verbünde (BAG GPV), beschrieb die beiden GPV als Leuchttürme. Insgesamt wachse die Anzahl der Beitritte zur BAG. Zu den Qualitätsstandards zählten unter anderem die regionale Versorgungsverpflichtung, ein systemisches Case-Management sowie die Finanzierung durch regionale Budgets („Sozialraumbudget“).
Im Talk kamen alle Netzwerkpartner der GPV zu Wort. Für die Psychiatrie-Erfahrenen ist eine Zukunft ohne Stigmatisierung Wunsch und Vision. Positiv bewertet wurde die Einführung von Rufbereitschaften infolge des BTHG. Die Angehörigen sehen den dringenden Bedarf von Kriseninterventionsdiensten, die zeitnah und unbürokratisch zur Verfügung stehen. Die Leistungserbringer diskutierten über den Begriff der Versorgungsverpflichtung: Reicht eine „Versorgungsverantwortung“ aus? Die Landkreise resümierten, dass das BTHG viele Ressourcen gebunden habe.