125 Jahre – So lange gibt es den Hilfsverein für seelische Gesundheit in Baden-Württemberg e.V.. Seither haben sich viele Rahmenbedingungen in der psychiatrischen Versorgung geändert. Doch die ursprüngliche Idee des Vereins, Menschen mit psychischen Erkrankungen in die Mitte unserer Gesellschaft zu integrieren, blieb immer aktuell.
Dem 1895, mit dem einstigen Namen „Hilfsverein für rekonvaleszente Geisteskranke in Württemberg“, gegründeten Verein kommt bis heute eine hohe Bedeutung zu. Er ist für das gesamte Bundesland tätig und fester Bestandteil der gemeindepsychiatrischen Entwicklung. Der Verein berät unter anderem das Ministerium für Soziales und Integration und setzt sich für die Weiterentwicklung der psychiatrischen Versorgung ein. Er unterstützt andere Verbände wie etwa Angehörigen- und Selbsthilfegruppen – auch finanziell, mit Mitteln aus dem Landeshaushalt.
Rund 60 Gäste kamen in der Klinik für Psychiatrie und Psychosomatik Reutlingen (PP.rt) zusammen, um auf die 125-jährige Arbeit des Hilfsvereins für seelische Gesundheit zurückzublicken und diesen besonderen Geburtstag zu feiern. Der Vorsitzende des Vereins Prof. Dr. Gerhard Längle führte durch den Nachmittag und sprach das erste Grußwort. „Psychisch kranke Menschen haben ein Recht auf einen Platz in der Gesellschaft“, verdeutlichte Längle die Idee des Vereins, die seit der Gründung bestehe. Es sei wichtig, dieses gemeinsame Ziel auch in Krisenzeiten wie der Corona-Pandemie weiter zu verfolgen. Für die Feier in der PP.rt wurde ein umfangreiches Hygienekonzept erarbeitet: unter anderem mit beschränkter Teilnahmezahl, Besucherlenkung und Maskenpflicht. Dies ermöglichte ein fachliches und gleichzeitig risikofreies Miteinander.
Gemeinsame Ziele verwirklichen
Zur Gründungszeit des Vereins seien die „Anstalten“ überbelegt gewesen, berichtete Ministerialdirigent Dr. Thilo Walker, Ministerium für Soziales und Integration. Patient*innen im Anschluss an den stationären Aufenthalt weiter zu betreuen, bezeichnete Walker als „moderne Idee“. Der Verein sei ein „Partner und Treiber“ mit hohem Einfluss auf die Entwicklung von der Anstalts- hin zur gemeindenahen Psychiatrie. Dass psychisch Erkrankte keine Randgruppe sind, verdeutlichte Dr. Gustav Wirtz, Ärztlicher Verband Krankenhauspsychiatrie. So leide jeder dritte Erwachsene ein-mal im Leben an einer psychischen Erkrankung. „Unser gemeinsames Ziel ist, der Stigmatisierung psychisch Kranker in der Gesellschaft aber auch in der Politik entgegenzuwirken.“ Das gemeinsame Vernetzen und die Zusammenarbeit mit allen Beteiligten seien hierzu unerlässlich.
„Der Hilfsverein hat eine enorm wichtige Rolle“, sagte Prof. Dr. Michael Faist, Kassenärztliche Vereinigung. Ohne ihn sei es nicht möglich, dass niedergelassene Ärzte Betroffene in für sie geeignete Hilfsangebote übermitteln und ihnen so das Leben ermöglichen, das sie sich wünschen. Dr. Inge Schöck, Landesverband Gemeindepsychiatrie Baden-Württemberg e.V., bezeichnete die Ziele des Vereins als „erstaunlich weitsichtig und aktueller denn je“. Schöck lenkte den Blick auch auf Zukunftsaufgaben. Es brauche weiterhin erhebliche Anstrengung für die gemeinsamen Ziele.
„Die Gelder vom Hilfsverein sind die Basis dafür, dass wir unsere Arbeit sinnvoll gestalten können“, bekundete Rainer Höflacher, Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Baden-Württemberg e.V.. Als Beispiel nannte Höflacher unter anderem die Förderung von EX-IN, „Experienced-Involvement“: Ein Konzept, bei dem psychisch Kranke als Genesungsbegleitung in psychiatrischen Kliniken arbeiten. Er appellierte aber auch: „Wir dürfen uns nicht ausruhen. Psychiatrie ist immer noch verbesserungswürdig.“ Auch Benjamin Lachat, Städtetag Baden-Württemberg, sprach seine Glückwünsche aus. Er hob die Aufgabe, gemeinsam gesunde Rahmenbedingungen zu gestalten, hervor. „Das Geld zu verwalten gelingt Ihnen gut“, wertete Lachat abschließend.
Geschichte als Grundlage für die heutige praktische Arbeit
Die Geschichte des Hilfsvereins hat Sylvia Luigart zum Thema ihrer medizinischen Doktorarbeit gemacht, die sie im Rahmen eines Fachvortrags bei der Jubiläumsfeier vorstellte. Wissenschaft-lich fundiert arbeitete sie die gesamte Historie des 1895 gegründeten „Hilfsvereins für rekonvales-zente Geisteskranke in Württemberg“ auf und legte den Schwerpunkt ihrer Thesis auf die Vor- und Nachkriegsjahre des Ersten und Zweiten Weltkriegs. Vor allem aber darauf, dass sich der Hilfsverein trotz einiger schwerwiegender Zäsuren ab 1945, wenn auch zögerlich, aber auf jeden Fall erfolgreich und mit Würde zu konsolidieren begann. Wichtige Ziele und besonders die Anti-Stigma- und Aufklärungsarbeit wurden bis in die 60er Jahre weiter verfolgt und ausgebaut. Schon vor Verkaufsstart im öffentlichen Einzelhandel konnte das Werk von Luigart auf der Veranstaltung und zum vergünstigten Preis erworben werden.
Mit dem zweiten Fachvortrag setzte der Leiter des Forschungsbereichs Geschichte und Ethik in der Medizin des ZfP Südwürttemberg, Prof. Dr. Thomas Müller, nahtlos dort fort, wo die Historie stehen geblieben war und referierte zu den Entwicklungen des Hilfsvereins in den 70er Jahren. Schon zu dieser Zeit wurde die “inhaltliche Nähe zu dem, was später die Säulen der Psychiatrie-Enquête wird“, deut-lich, so der Wissenschaftshistoriker. Die nachhaltig bedeutsamen Entwicklungen schon zu damaliger Zeit nutzte Müller für einen Ausblick: Er sieht unsere Gesellschaft vor einigen Herausforderungen und misst der Psychiatrie, den sozialpsychiatrischen Vereinen eine dementsprechend große Bedeutung bei.
Ebendiese Wichtigkeit wurde bei der Vorstellung dreier Hilfsvereine in Baden-Württemberg konkret. Mit dem Verein Arkade e.V. hat die oberschwäbische Stadt Ravensburg einen “sehr kliniknahen Hilfsverein“, so Geschäftsführer Hubert Kirchner stolz. Psychisch Kranke im Nordschwarzwald werden von Geschäftsführerin Brigitte Beißwenger und ihren rund 20 Mitarbeitenden im Arbeitskreis offene Psychiatrie Calw e.V. versorgt, der sich inzwischen mit der BruderhausDiakonie zusammengeschlossen hat. Die Freiburger Hilfsgemeinschaft e.V. mit Friedhilde Rißmann-Schleip in der Geschäftsführung zeichnet sich durch ausschließlich ambulante Hilfsangebote im Südwesten aus – und durch das große Engagement der Bürgerhelfenden. Ein Kriterium, das zum Schluss nochmals verdeutlichte, was auf der gesamten Jubiläumsfeier mitschwang: Psychiatrie betrifft uns alle und ist ein gesamtgesellschaftliches Thema.