Bedarf es eines neu gefassten rechtlichen Rahmens, damit eine spezifische Gruppe von Patientinnen und Patienten unter bestimmten Voraussetzungen eine notwendige, richterlich verfügte Behandlung auch ohne stationäre Aufnahme dulden muss? Bei der vom ZfP Südwürttemberg und der PP.rt Reutlingen wieder gemeinsam ausgerichteten 33. Ethiktagung drehte sich alles um das Thema Ambulante Behandlungsweisung.
„Noch nie gab es so viele kritische Reaktionen im Vorfeld einer Ethiktagung“, eröffnete Dr. Dieter Grupp die Veranstaltung in der Zwiefaltener Rentalhalle. Der Geschäftsführer des ZfP Südwürttemberg betonte, wie wichtig es sei, das Thema Ambulante Behandlungsweisung von allen Seiten her zu beleuchten und transparent zu diskutieren. „Psychiatrisch Tätige haben ihren Beruf gewählt, um Menschen zu helfen, nicht um als Teil der Staatsgewalt in die Rechte der Patientinnen und Patienten einzugreifen. Unser ureigenes Interesse ist es, Zwangsmaßnahmen zu vermeiden.“
Was genau gemeint ist, wenn von ambulanter Behandlungsweisung gesprochen wird, konkretisierte dann Prof. Dr. Gerhard Längle, Regionaldirektor Alb-Neckar im ZfP Südwürttemberg und Geschäftsführer der PP.rt und GP.rt Reutlingen. Er sagte: „Im Mittelpunkt der Diskussion steht, ob uns ein neues rechtliches Konstrukt dabei helfen könnte, Schaden für die Behandelten wie auch für das Umfeld, für die Behandelnden sowie für die Gesellschaft insgesamt abzuwenden.“ Diese grundsätzliche Frage impliziere nicht nur rechtliche oder therapeutische, sondern auch politische und ethische Zusammenhänge.
Selbstbestimmung sei heute (fast) das Maß aller Dinge, sagte Längle, doch bei einer kleinen Gruppe schwer chronisch Erkrankter, die sich weder stationär noch ambulant freiwillig behandeln lassen, sei die ambulante Behandlungsweisung womöglich hilfreich, um eigen- und fremdgefährdendes Verhalten zu verhindern: „Dabei ist mir wichtig zu betonen, dass es nicht um bloße Zwangsverabreichung von Medikamenten geht, sondern um die Möglichkeit, diese Menschen mithilfe unserer drei Säulen Psychotherapie, Soziotherapie und Pharmakotherapie weiter zu behandeln.“
Einen Eindruck davon, um welche Patientengruppe es sich handeln würde, vermittelte ein Erfahrungsbericht von Dr. Hubertus Friederich und Ralf Aßfalg, Ärztlicher sowie Pflegerischer Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychosomatik Alb-Neckar. Gemeinsam schilderten sie einen konkreten Fall aus explizit klinischem Blickwinkel. Friederich: „Für uns ein gutes Beispiel, wie durch eine ambulante Behandlungsweisung sehr viel Leid hätte verhindert werden können.“
Die Patientin litt laut der beiden Referenten an einer schwer verlaufenden, paranoiden Schizophrenie und war seit den 1980er-Jahren mehrfach stationär und ambulant behandelt worden. „Über die Jahre gab es mannigfache Vorfälle von selbst- und fremdaggressivem Verhalten mit schweren Körperverletzungen und Bedrohungen gepaart mit Non-Compliance hinsichtlich therapeutischer Hilfe, schilderte Aßfalg die für alle Beteiligten herausfordernde Situation. Der Respekt vor ihrer Autonomie sei lange Zeit weiterhin gewahrt worden. Schließlich sei eine gerichtliche Einweisung in die Forensik unumgänglich geworden, was, nach mehreren Straftaten, 2021 erfolgte. Aßfalg: „Was, wenn es die Möglichkeit gegeben hätte, sie frühzeitig längerfristig zuhause zu behandeln?“
Dr. Udo Frank zeigte im Anschluss die Perspektive ebenjenes Bereichs auf, der für diese und ähnliche Krankheitsverläufe als letzte Behandlungsmöglichkeit in Frage kommt: die forensische Psychiatrie. Vor dem Hintergrund des starken Anstiegs der gerichtlichen Zuweisungen und der daraus resultierenden Ressourcen- und Platznöte der Kliniken führte der Leiter des Zentralbereichs Maßregelvollzug im ZfP Südwürttemberg aus: „Der Anstieg im Bereich der Paragrafen 126a StPO und 63 StGB geht nahezu ausschließlich auf schuldunfähige Personen zurück, die meist langjährig allgemeinpsychiatrisch vorbehandelt waren und überwiegend wegen mittelschwerer Kriminalität untergebracht werden.“
Ambulante Behandlungsweisungen könnten – unter Berücksichtigung enger verfassungsrechtlicher Vorgaben – aus seiner Sicht einen Baustein darstellen, dieser Entwicklung entgegenzuwirken: „Diese stellen gegenüber einer Unterbringung nach §63 ein milderes Mittel dar, sind aktiver Opferschutz und ersparen psychisch Kranken einen jahrelangen Freiheitsentzug.“
Prof. Dr. Tilman Steinert, Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Ravensburg-Bodensee und Leiter des Zentralbereichs Forschung und Lehre im ZfP Südwürttemberg, widmete seinen Vortrag der Frage nach der Wirksamkeit dieses Ansatzes und lenkte dafür den Blick ins Ausland. Zunächst machte er deutlich, dass die Debatte darüber auch in Deutschland nicht neu ist: So gab es im Jahr 2003 einen Gesetzentwurf zur Änderung des Betreuungsrechts, welcher eine „zwangsweise Zuführung des Betreuten zur ambulanten ärztlichen Heilbehandlung“ beinhaltete, jedoch vom Bundestag nicht verabschiedet wurde.
Steinert zeichnete ein gemischtes Bild: „Einerseits sind ambulante Behandlungsweisungen in vielen Ländern fest implementiert, andererseits variiert die Anwendungshäufigkeit erheblich.“ Die Evidenzlage hinsichtlich der Wirksamkeit sei „bestenfalls mäßig“, sagte er weiter. Seine Schlussfolgerung: „Behandlungsweisungen sind vermutlich umso eher nützlich, je besser die Zielgruppe ausgewählt wird und je intensiver eine begleitende Betreuung erfolgt.“
Der Ärztliche Leiter der PP.rt Reutlingen, Dr. Frank Schwärzler, referierte ein weiteres Beispiel aus der klinischen Praxis und betonte, dass es darum geht, Behandlung weiter zu ermöglichen und forensischen Zwang zu vermeiden. „Dazu bräuchte es das Mittel der ambulanten Weisung auch ohne akute Gefährdungslage.“
Schon am Vormittag hatte der baden-württembergische Sozialminister Manne Lucha in einer Videobotschaft gesagt: „Bei einem Teil der psychisch Erkrankten greifen die bestehenden Regelungen nicht mehr. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns mit der Frage nach neuen Weisungsmöglichkeiten befassen.“ Die leitende Ministerialrätin Christina Rebmann knüpfte daran an und sagte: „Es ist wichtig, darüber zu sprechen, welche gesetzlichen Änderungen es bräuchte, um einen Ausweg aus dieser Spirale aus Fremd- und Eigengefährdung zu finden. Ethische und verfassungsrechtliche Aspekte sind hier relevant. Die Kritik, die Sorgen und Ängste von Betroffenen diesbezüglich nehmen wir sehr ernst.“
Der Tübinger Landgerichtspräsident Reiner Frey gab daraufhin einen Einblick in die juristische Praxis. Sein Fazit: „Ambulante Weisungen sind ein überlegenswertes Konzept, das derzeit gültige Recht gibt das jedoch nicht her.“ An das Sozialministerium richtete er indes den Appell, dass vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels und der Größe des Bezirks Online-Anhörungen möglich gemacht werden sollten: „Ein Erkenntnisdefizit dadurch ist nicht ersichtlich.“
Carina Kebbel vom Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Baden-Württemberg referierte anschließend ihre kritische Sicht auf das Konzept: „Warum soll die bestehende Rechtslage ausgehöhlt werden? Ambulante Behandlungsweisungen bringen keinerlei Vorteile für die Betroffenen, sondern nur Nachteile hinsichtlich deren Selbstbestimmungsrechte.“ Das trialogische Prinzip habe sich etabliert und statt Gesetze per Dampfhammer ändern zu wollen sollten zunächst alle derzeit zulässigen Möglichkeiten ausgeschöpft werden, um auch schwer psychisch Erkrankten zu helfen. „Eine solche Regelung wäre vielleicht passend für nur sehr wenige Einzelfälle, würde aber für alle psychiatrisch Behandelten gelten. Wer stellt sicher, dass Individuen adäquat individuell betreut werden und dass es im alltäglichen Setting nicht zur missbräuchlichen Anwendung kommt?“
Gabriele Glocker vom Landesverband Baden-Württemberg der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen schilderte als Mutter eines schwer psychisch erkrankten Sohnes ihr Erleben der Problemlage. „Wo endet die Autonomie des Individuums und wo beginnt die Fürsorgepflicht der Gesellschaft?“ Nicht nur Betroffene selbst würden leiden, auch Familienangehörige. Und komme es zu fremdverletzenden Handlungen litten die Angehörigen unter Schuldgefühlen. Ihr Fazit: „Wenn Menschen mit einer schweren psychischen Erkrankung krankheitsbedingt unfähig sind einzusehen, dass sie schwer erkrankt sind und sie zur Gefahr für andere Menschen werden können, dann sollte die Behandlung zu ihrem und zum Schutz anderer durchgesetzt werden können.“
Bevor Prof. Längle zur Podiumsdiskussion überleitete, beleuchtete Hermann Wieland, ehemaliger Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht und Mitglied der Ethikkommission des ZfP Südwürttemberg, die Fragestellung. Er resümierte: „Aus ethischer Sicht halte ich die ambulante Behandlungsweisung für unbedenklich. Kombiniert mit Einzelfallprüfungen, kurz abgestellten Zeiträumen und klaren Bezugspersonen erscheint sie mir ein zeitgemäßes, sachgerechtes und evident angebrachtes Instrument präventiven Charakters zu sein.“
Der Wieslocher Landtagsabgeordnete Norbert Knopf schloss die Reihe der Referent:innen ab. Die Politik müsse Leitlinien für eine vernünftige Medizin definieren, sagte er. „Bei jeder Fremdgefährdung beginnt die Schuldzuweisung – medial und gesellschaftlich. Und ich beobachte eine Tendenz zur Übertherapie aus Angst vor dieser und anderen Folgen.“ Vor einer Gesetzesänderung gehe es darum, ein vernünftiges Konzept und ausreichende Ressourcen zu haben – nur so könne das Vertrauen der Bevölkerung (zurück)gewonnen werden.
Begleitet wurde die 33. Ethiktagung von vereinzelten Zwischenrufen, die in einem Moment in wütenden Beschimpfungen und Trillerpfiffen gipfelten, sodass das Programm kurzzeitig unterbrochen werden musste. Vier Gegner:innen des Konzepts formierten sich vor der Podiumsdiskussion zu einem Chor und artikulierten ihren Protest auf der Bühne in Form eines Lieds. Bereits mit Beginn der Tagung hatten sie am Eingang zur Rentalhalle entsprechende Parolen platziert und Flyer verteilt.
i: Die Vorträge der Tagung können für die Teilnehmenden auf Wunsch per Dowload-Link bereitgestellt werden. Wenden Sie sich hierzu an liane.rauch@zfp-zentrum.de